Nur ein Einzelfall?

Eine selbstbewußte und willensstarke blinde Dame, konnte mit Unterstützung noch bis zu ihrem 92. Lebensjahr im eigenen Haus leben, musste dann aber wegen ihres schlechten Allgemeinzustandes ins Krankenhaus. Dort schrie sie immer wieder lautstark um Hilfe, war sehr unruhig und lies nicht mit sich reden. Der Oberärztin war schnell klar, sie muss entmündigt und in eine Geriatrie eingewiesen werden, dafür stellte sie bei Gericht einen Eilantrag. Ein Bekannter der Dame wurde auf die Situation aufmerksam und lies sich von der Seniorin eine Einwilligung unterschreiben, für sie handeln zu dürfen. Er telefonierte mit der Richterin und schlug vor, dass er sich schnellstens um einen Kurzzeitpflegeplatz bemühen würde, um dann in Ruhe über eine Betreuung entscheiden zu können. 

Es klappte alles, noch während sie in der Kurzzeitpflege war wurde eine Betreuung eingerichtet und auf Wunsch der Seniorin, mit der man über ihre Situation gut reden konnte, wurde eine Pflegeeinrichtung gefunden in der sie seitdem lebt. Kurz nach der Aufnahme im Heim konnten nach Rücksprache des Betreuers mit dem Arzt die noch verabreichten bewusstseins einschränkenden Medikamente abgesetzt werden. Bei zwei Augenoperation erhielt die Seniorin neue Linsen eingesetzt und kann nach vielen Jahren wieder sehen und sogar größer geschriebene Texte lesen. Sie nahm an den unterschiedlichen Angeboten im Heim teil, verfolgte im Fernsehen die Nachrichten, telefoniert selbständig und die massiven Besuchseinschränkungen durch Corona konnten ihr den Lebensmut nicht nehmen. Sie bekam ein Hörgerät und witzelte bei den Mitbewohnern: „Sie können ruhig weiter über mich lästern, ich kann sie jetzt alle verstehen“.

Nach eineinhalb Jahren im Heim stürzte sie trotz Begleitung einer Pflegekraft beim Waschen am Waschbecken und zog sich mehrere Brüche an den Beinen zu. Nach drei Operationen incl. Vollnarkosen und einem zehntägigen Aufenthalt im Krankenhaus wurde sie entlassen und war bettlägerig. Als sie sich beim Essen verschluckte, wurde sie erneut ins Krankenhaus eingewiesen, dort traten die Hilfeschreie wieder auf, sie wurde unruhig und es wurden wieder sedierende Medikamente eingesetzt. Nach der Entlassung war der Blasenkatheter vom Krankenhaus eine willkommene Hilfe im Heim, das Aufwändige Wechseln des Inkontinenzmaterials zu umgehen.

Der engagierte Betreuer sprach mit Ärzten, Pflegekräften und der Wohnbereichsleitung, um die Verabreichung von Benzodiazepinen und Neuroleptika abzusetzen und den Katheder gegen Inko-Material auszutauschen. Er ging davon aus, für die Dame damit ein menschenwürdiges und ihren Bedürfnissen und Wünschen angemessenes Leben zu erreichen. Die im Heim akkreditierten Ärzte orientierten sich aber primäre an den Vorgaben und Aussagen von Mitarbeiter*innen, die die Notwendigkeit sahen, die Medikamentierung und den Katheder so beizubehalten. Nach vielen Gesprächen im Haus und mit externen Ärzten wurde schließlich der Katheder gezogen und die Medikamente abgesetzt. Die Bewohnerin lebte wieder auf und lässt sich sogar auch ein Stück weit mobilisieren, ihre Kommunikation ist viel positiver und sie hat Lebensmut. Der Betreuer nimmt seine Aufgabe mit grossem persönlichem Einsatz sehr ernst und erreicht für die mittlerweile 95-jährige Frau Lebensfreude. Im Haus ist er allerdings bei einigen Mitarbeitern zum roten Tuch geworden, weil er sie erstens „kritisiert“ hat und zweitens mit seiner Sicht der Dringe eine positive Wende herbeiführen konnte.

Fazit: Der Mensch muss funktionieren, ob Mitarbeiter*innen oder Pflegebedürftige. Es geht um Zeit und Geld und beides fehlt für ein menschenwürdiges Handeln am und mit den Menschen. Wenn verantwortungsvolle Angehörige oder Freunde und Betreuer da sind, sich einmischen und Zeit opfern, dann können sie die Arbeit positiv unterstützen, ja sogar schwierigen Entwicklungen eine neue Richtung geben. Was passiert aber mit denen, die keinen Menschen sonst haben, wo keiner von Aussen mit den Mitarbeitern gemeinsam mal über den Tellerrand schaut.

In diesem Fall wäre die Dame nach ärztlichem Gutachten und durch richterlichen Beschluss in eine Geriatrie eingewiesen worden und dort bettlägerig, sediert, mit Katheder und Magensonde versorgt, „gut“ gepflegt worden. Das System muss funktionieren, darf nicht zu viel kosten und braucht schnelle „Lösungen“. Fehlendes Personal, Hilfskräfte die Fachkräfte ersetzen, möglichst keine zwischenmenschlichen Probleme, Time ist Money, das ist die Realität und daran ändern auch die wenigen positiven Häuser nichts, die übrigens auch unter dem gleichen Druck stehen. 

In unserer heutigen Pflegerealität wird viel zu oft aus Kontinenzförderung ein Katheter, aus einem beruhigenden Gespräch ein sedierendes Medikament, aus einem mehrfachen Wechsel des Inkontinenz-Materials eine Windelhose mit 4 Liter Fassungsvermögen. 

Pflege braucht keine Politischen Versprechungen von 12.000 oder 20.000 zusätzlichen Stellen, von denen jeder weiss, das es die nicht gibt, Pflege braucht eine grundlegende Reform. Wer weiss schon, dass es vor dem Pflegeversicherungsgesetz bis 1995 einmal kostendeckende Pflegesätze mit auskömmlichen Personalschlüsseln gab.

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